„Wollt ihr noch mit?“, ruft uns der Uniformierte am Hafentor von San Jorge entgegen, als er uns sieht. „Wenn ja, beeilt Euch, wir legen gleich ab“. Wir nehmen also die Beine in die Hand und Fred sprintet zum Häuschen der Hafenmeisterei, um die Hafensteuer zu entrichten. Danach geht es mit rasender Geschwindigkeit den Pier entlang und rauf auf die „Che Guevara“, eine der Autofähren, die auf dem Nicaragua See verkehren und die uns in einer einstündigen Fahrt nach Moyogalpa auf der Isla de Ometepe bringt. Wir sind froh, hier noch mitzukommen, denn es ist die letzte Überfahrt des Tages. Im Schein der untergehenden Sonne (mit einem fernsehschauenden Kapitän auf der Brücke) nähern wir uns eines der Wahrzeichen Nicaraguas. Die Insel Ometepe wird voll und ganz von ihren beiden Vulkanen Concepción und Maderas beherrscht, die im Abendlicht rötlich leuchten. Noch bevor wir in Moyogalpa anlegen sind beide von der Dunkelheit verschluckt. Wir beschließen im Hafen der Inselhauptstadt zu übernachten, klappen schon mal das Zelt auf und setzen uns auf eine nahe gelegene Bank, um dem abendlichen Treiben noch zuzuschauen, bevor es für uns „gute Nacht“ heißt. Ein Pferd läuft vorbei, doch wir können sein Interesse nicht wecken. Auch die Straßenhunde nehmen heute keine Notiz von uns. Bei näherer Betrachtung unseres Umfelds entdecken wir jede Menge Geschäfte und Lokale, deren Schotten bereits dicht sind und vor denen nach und nach Wächter Position beziehen. In dieser Nacht sind es sicher 10, von denen wir behütet werden!
Gegen 1 Uhr nachts werden wir geweckt. Es geht recht fröhlich zu auf dem Platz vor dem Land Rover, denn lautes Gelächter dringt durch unsere dünne Zeltwand. Wir schauen schlaftrunken nach draußen. Im Schein der einzigen funktionierenden Straßenlaterne stehen 8 Männer zusammen. Es sind die Nachtwächter, die, wohl um sich die Langeweile zu vertreiben, gegenseitig Anekdoten zum Besten geben. Während die Wächter fröhlich plaudern und offenbar ihren Spaß haben, haben wir nicht nur Mühe den Worten zu folgen, sondern auch den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen.
Man hatte uns am Vorabend gewarnt. Der Hafenalltag beginnt früh. Gegen 5 Uhr am kommenden Morgen fahren die ersten Busse, die den öffentlichen Nahverkehr auf den beiden Inselhälften bestreiten, vor. Die ersten Inselbewohner wollen übersetzen auf´s Festland, um einer Arbeit nachzugehen, Einkäufe zu erledigen oder etwas von ihren Produkten auf dem Markt zu verkaufen. Die zunehmende Geräuschkulisse macht ein Weiterschlafen unmöglich. Auch wollen wir nicht in diesem Gewimmel, unter den Augen der Öffentlichkeit, frühstücken. Noch bevor die erste Fähre ablegt befinden wir uns auf dem Weg nach San Marcos. „Wo geht’s zum Seeufer?“, fragen wir an einer Straßenkreuzung die dort Stehenden. „Dort lang“, lautet die Antwort, so dass wir nach links abbiegen und uns kurz darauf auf der Gemeindeallmende wiederfinden. Hier ist nicht nur die öffentliche Badeanstalt und Wäscherei, hierher werden auch die Tiere zur Tränke geführt und das Wasser für den Haushalt geholt. Das lauschige Plätzchen gibt uns einen guten Einblick in das Leben des dörflichen Nicaraguas. Eine Kuhherde umringt uns und schnüffelt neugierig am Wagen. Das würden die Menschen, die sich zu früher Stunde bereits eingefunden haben, wohl am liebsten auch tun, zumindest ihren Blicken nach zu urteilen. Nicht nur wir sehen Interessantes, auch wir sind interessant für andere.
Wir beschließen inmitten dieser Kulisse zu frühstücken, um dem Treiben weiter zuzuschauen. Das, was wir hier erleben, findet vermutlich seit eh und je so statt. Kaum zu glauben. Wir fragen uns, ob wir wirklich im 21. Jahrhundert sind. Es kommt uns vor, als wären wir um 100 Jahre zurück versetzt. Dabei ist die Insel eines der touristischen Top-Ziele in Nica-Land (vielleicht genau deswegen), was sich in der großen Zahl Besucher sowie entsprechender Infrastruktur niederschlägt. Dennoch: Nirgends sonst kreuzen so viele Ochsenkarren unseren Weg, begegnen wir so zahlreichen Reitern und so wenigen Privatfahrzeugen (ausgenommen denen, die die Touris umherfahren). Die Vegetation ist üppig grün; es gibt viele Bananen-Plantagen und immer wieder schöne Ausblicke auf den See. Angeblich verfügt Isla de Ometepe über 78 Kilometern befestigte Straße. Wir finden an diesem Tag ungefähr 3 davon, was die Frage aufwirft, ob sich vielleicht ein Druckfehler in den Reiseführer verirrt hat.
Nach unserem Frühstück zuckeln wir langsam über zum Teil katastrophale Straßen an riesigen Mangobäumen vorbei, die ganze Allen bilden, immer begleitet von grandiosen Ausblicken auf den Vulkan Concepción. Ein tolles Erlebnis.
Wir essen in einem kleinen Restaurant am See zu Mittag, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Der Tag ist sehr heiß und staubig. Ein erfrischendes Bad in einem Mineralwasser-Pool, soll uns die notwendige Abkühlung bringen. Wir besuchen Ojo de Agua, wo reinstes Wasser aus einer unterirdischen Quelle an die Erdoberfläche sprudelt, plantschen im angenehm temperierten Nass und dürfen hier sogar die Nacht verbringen, so dass der kommende Tag so beginnt, wie der vorangegangene endete: wir baden. Der Pool ist riesig, das Wasser glasklar, sogar kleine Fische sehen wir.
Am nächsten Morgen schauen Yerdi und Juana vorbei, die ihre Mutter zum Waschtag begleitet haben, denn das Wasser aus der Quelle gilt als das beste der ganzen Insel. Die beiden Kinder werden von uns mit Marmeladenbroten verwöhnt, während ihre Mama fleißig Wäsche sauberrubbelt. Der Berg Kleidung, der durch die abgearbeiteten Hände der Frau wandert, ist riesig. Einmal in der Woche kommt sie hierher, um mehrere Stunden hintereinander (3-4 Stunden), selbst bis zur Hüfte im Wasser stehend, die Kleidungsstücke einzuweichen, einzuseifen, zu rubbeln und zu wringen.
Nach 2 Inseltagen lockt das Festland wieder. Wir treten die Rückfahrt nach Moyogalpa an, wofür wir eine andere Route wählen. Siehe da, die bisher nicht gefundenen, restlichen 75 Kilometer befestigte Straße liegen vor uns. Der Reiseführer hatte also doch recht, was sich für uns natürlich als vorteilhaft erweist: wir kommen schneller voran, können unterwegs noch gemütlich zu Mittag essen und der Wagen staubt nicht so ein.
Nachdem wir vor dem Büro des Fähranbieters geparkt haben besorgen wir die Fährpassage und laufen gleich noch schnell rüber zur Hafenmeisterei, die nur 50 Meter entfernt ist, um die obligatorische Hafensteuer zu entrichten. Der Schalter ist geschlossen, Mittagspause. Wir beschließen, später nochmal wiederzukommen. Die Fähre fährt erst am späten Nachmittag und uns bleiben 3 Stunden Zeit, die wir nutzen, um uns den Ort anzuschauen. Als wir nach einer halben Stunde – länger dauert das nicht – zurück sind schauen wir nochmal bei der Hafenmeisterei vorbei, doch der Kollege ist noch zur Pause. „Na, macht ja nichts, ist ja noch Zeit bis zur Abfahrt“. Wir setzen uns in den Landy, trinken Kaffee und probieren es eine Stunde später abermals, die Steuer zu bezahlen. Wieder haben wir kein Glück. Die Mittagspause scheint heute länger zu dauern. Schließlich gelingt es uns erst kurz vor Abfahrt der Fähre, das Säumige nachzuholen. „Immerhin noch rechtzeitig“, wie der „Steuereintreiber“ auf unsere Frage, wo er denn die ganze Zeit gesteckt habe, knapp antwortet.
Gegen 16.45 Uhr legt die Fähre an. Sofort entspinnt sich ein reges Treiben auf dem Schiff sowie am Anleger. Während Passagiere und Fahrzeuge gleichzeitig versuchen die Fähre zu verlassen, formiert sich bereits eine Schlange Wartender, die die Fähre besteigen wollen, am Pier. Ein heilloses Gewusel beginnt. Es geht schlimmer zu als auf einem Ameisenhaufen, wobei man betonen muss, dass es sich um eine sehr kleine Fähre handelt und es eigentlich kein Problem darstellen sollte das Be- und Entladen zu organisieren. Eigentlich … Für den Mann, der dazu abgestellt wurde, genau das zu tun, scheint es sich allerdings um eine größere Herausforderung zu handeln... Jeder meint, der erste sein zu wollen und ist nur schwer vom Gegenteil zu überzeugen, auch nicht vom Uniformträger der Hafenmeisterei. In Nicaragua fällt uns diese Eigenart besonders auf. Die Menschen lassen wenig Rücksicht walten. Die eigenen Wünsche stehen oft im Vordergrund, dulden keinen Aufschub. Sei es, um laut Musik zu hören, womit gleich die ganze Nachbarschaft mitbeschallt wird, sei es, weil sich der Fischer morgens um 6 überlegt sein Holzboot abzuschleifen oder die Oma von nebenan die Schlager im Radio lauthals mitträllert, die kleine Kirchengemeinde fleißig neue Lieder einstudiert oder ein menschliches Bedürfnis drückt, so dass sich Erleichterung an Ort und Stelle verschafft wird (wir haben Männer mitten in der Stadt auf den Gehsteig pinkeln sehen). Was Andere möchten ist von geringerer Bedeutung, erstmal ich scheint das Motto zu sein. Was anderswo anstößig wirkt wird hier offenbar als nicht aufschiebbare Notwendigkeit betrachtet.
In den warmen Regionen Lateinamerikas, so auch in Nicaragua, findet ein Großteil des Lebens sowieso Draußen statt. Die Familien sind groß, die Wohnverhältnisse entsprechend beengt. Was liegt da näher als am Abend den Gehsteig oder einen Teil der Straße mit zu nutzen. Eins, zwei, drei stehen Schaukelstühle in der lauen Luft und schwuppsdiwupps ist das Wohnzimmer gleich doppelt so groß. Hier lässt es sich herrlich plaudern oder auch Mitverfolgen, was im Fernseher läuft, der oft so positioniert ist, dass man den Bildschirm vom luftigen Salon aus betrachten kann (nur der Ton muss dann etwas lauter gestellt werden). Das ist ganz normal und sehr beliebt.
Insbesondere in Nica-Land empfinden wir die Menschen als nicht mehr ganz so zurückhaltend, wir wir es in den Nachbarländern kennengelernt hatten. Während wir in Mexiko oder Guatemala die Leute regelrecht auffordern mussten näher zu kommen, kennt der Nica fast keine Hemmungen. Wie gesagt, die Großfamilie ist kein Fremdwort, der Wohlfühlabstand deutlich geringer als in Europa. Die Menschen rücken einem hier einfach auf den Pelz! So ist es vorgekommen, dass wildfremde Menschen die Motorhaube von Landy als Schreibunterlage benutzten, andere mit ihrem kompletten Oberkörper darauf lagen, den Kopf lässig auf die Hand aufgestützt oder den Wagen als Steighilfe benutzten, um eine Rampe emporzuklettern. Das ist etwas befremdlich. Ungezählt all die Menschen, die sich mal eben so am Wagen festhalten, wenn sie mit uns sprechen.
Jetzt hier am An- bzw. Ableger sehen wir uns einem ausgemachten Chaos gegenüber, dass kurz vor der planmäßigen Abfahrt des Schiffs um 17.30h seinen Höhepunkt erreicht: damit die Autos am Fahrziel am gegenüberliegenden Seeufer leichter die Fähre verlassen können sollen die Wagen rückwärts auf die Fähre fahren. Als alle Fahrzeuge richtig stehen und auf das Signal „rauffahren“ warten, wird diese Regelung kurzfristig geändert. Die Liegezeit der Fähre im Hafen von Moyogalpa droht kostenpflichtig zu werden. Um keine unnötig hohen Liegegebühren zu zahlen werden alle Autofahrer angewiesen vorwärts auf das Schiff zu fahren, „das geht schneller“. Den ungläubigen Blicken der jeweiligen Fahrer folgen Anfeuerungsrufe „rápido, rápido“. Nach erfolgreichen, neuerlichen Wendemanövern am Pier fahren die KFZ schließlich auf die Fähre, wo sie ihre Parkposition zugewiesen bekommen. Mit 10 Minuten Verspätung legen wir ab Richtung San Jorge.
Je weiter wir auf den See hinauskommen desto stärker bläst der Wind. Eben noch hungrig in ein Brot beißend wird uns durch den hohen Wellengang richtiggehend flau im Magen, so sehr geht es auf und ab. Das Abendbrot wird auf jeden Fall erstmal verschoben. Dafür suchen die Augen konzentriert den Horizont, was mit zunehmender Dunkelheit immer schwerer fällt, so dass das Flauheitsgefühl deutlicher zu Tage tritt. Die Wellen schlagen hoch, so dass die Fähre nur so schaukelt. Auch der Landy schwankt ziemlich, so sehr, dass sich bald ein Mitglied der Fährmannschaft am Bullenfänger zu schaffen macht: er versucht den Wagen an der Reling festzubinden, „damit er nicht umfällt“. Aus der gemütlichen, abendlichen Überfahrt wird also nichts. Wir sind nun nicht mehr nur mit unseren Mägen beschäftigt, sondern zudem bereitet das Schwanken des Wagens ein mulmiges Gefühl. Da die Fähre in der Hafeneinfahrt drehen muss steht der prekärste Teil der Fahrt noch bevor. Um ein Umkippen des Wagens zu verhindern soll er komplett vertäut werden. Dazu wird der Dachträger auserkoren. Unter heftigem Protest können wir verhindern, dass die Mannschaft die Taue um die Befestigung des Trägers schlingt, denn, so unsere Befürchtung, die Dachträger könnten abreißen. Auch dem Vorschlag einen Holm des Autos zu nutzen müssen wir widersprechen. Der Landy ist aus Aluminium konstruiert und ein Holm könnte sicher nicht 3 Tonnen halten, wenn der Wagen kippt … Wegen der tosenden Windgeräusche müssen wir schreien, was die Verständigung erschwert. Die Wellen schlagen über die Reling und nur mit Mühe können wir uns auf Deck auf den Beinen halten, die heftige Gischt tut ihr übriges. Die Hafeneinfahrt rückt näher, ohne dass wir eine Lösung haben. Angestrengt überlegen wir und hoffen, dass kein größeres Drama passiert. Schließlich halten 4 kräftige Männer den Wagen fest, als der Kapitän zur Wende in der Hafeneinfahrt von San Jorge ansetzt. Dank ihres engagierten Einsatzes geht alles gut. Wir können Landy heil von der Fähre an Land fahren und sind froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.